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III. Aspekte unserer  sozialtherapeutischen Arbeit Der moderne Mensch geht im Verlaufe seines Le- bens viele komplexe Beziehungen mit Gemein- schaften ein, die zueinander eine mehr oder we- niger heterogene Wertekultur haben. Familiäre,  schulische, klerikale oder ökonomische Prägungen  sind nicht mehr aufeinander abgestimmt, sodass  der Mensch ab dem Jugendalter, wenn er beginnt,  sich und die Weltverhältnisse infrage zu stellen,  kaum seelische Stabilisatoren von diesen Sozialisa- tionsquellen mitgebracht hat. Die Jugend gründet  heute kaum noch auf einer Kindheit, die gestaltet  war durch rituelle und rhythmische Prozesse, wie  z.B. das würdevolle Feiern von religiösen und natur- bezogenen Jahresfesten. Rhythmus jedoch ist ein  wesentliches Agens allen Lebens und ist durch sich  selbst gesundheitsfördernd. Rituale sind förder- lich für das Sich-getragen-und-verankert-Fühlen  des Einzelnen in und durch seine Gemeinschaft,  soweit es noch von echter identifikatorischer Ver- bundenheit gestaltet und erlebt wird. Es ist daher  verständlich, dass stoffliche und nichtstoffliche  Suchtmittel in vielen Fällen in diesem Alter als  „Ersatz-Sozialisationsmittel“ gewählt werden. Sie  stehen stellvertretend für ein existenzielles Getra- genheitsgefühl, welches nicht vermittelt werden  konnte. Da das Suchtmittel seinem Wesen nach  dieses Gefühl nur in illusorischer Form vermittelt,  es jedoch niemals mit den ersehnten Lebensreali-
täten zur Deckung bringt, folgen früher oder später  bei entwickelter Abhängigkeit unausweichlich psy- chosozialer Abbau, Perspektivlosigkeit und Verein- samung. Hier setzt die anthroposophisch erweiterte Sozial- therapie an. Der Einzelne erfährt: ohne ihn, ohne  sein verantwortliches Mittun und teilnehmendes  Interesse kann die Gemeinschaft nicht existieren. Der Therapieraum wird zum Lebensraum,  der Lebensraum zum Therapieraum . . .  Im Rahmen der therapeutischen Gemeinschaft wird  die suchtgeprägte, oft fremdbestimmte biografi- sche Vergangenheit reflektiert und für die Selbst- werdung fruchtbar gemacht. Zu diesem primär gesundheits-, nicht krankheits- orientierten Ansatz sollen umweltergreifende und  sinnesintensive Impulse dienen. In verschiedenen  Bereichen von künstlerischem Tun und genießen,  von kulturellen Angeboten und der Teilnahme an  Beschäftigungs- und Bildungsmaßnahmen kann  eine neue Sinnschöpfung erlernt werden. Dabei können mitunter erschütternde Innener- lebnisse durchgemacht werden. Der betroffene  Mensch bemerkt durch neue Erfahrungen im Laufe  des therapeutischen Prozesses, dass er mit einem  Großteil seiner alten Art, die Außenverhältnis- se und auch sich selbst zu bewerten, nicht mehr